Ingenieur in der Psychotherapie – eine persönliche Annäherung

„Wir verstehen das Leben rückwärts, aber wir müssen es vorwärts leben.“ – dieser Satz von Søren Kierkegaard begleitet mich seit Jahren. Und vielleicht ist es auch dieser Blick in den Rückspiegel, der mich heute dazu bringt, diesen Text zu schreiben. Eine Frage, die mir immer wieder begegnet, lautet: Wie wird man vom Verfahrenstechniker zum Heilpraktiker für Psychotherapie?

Das klingt simpel. Fast wie eine Berufsberatung. Aber unter der Oberfläche steckt mehr: Prägungen, Richtungswechsel, langsames Reifen. Keine lineare Karriere – sondern ein Netzwerk von Wechselwirkungen, Umwegen, Rückkopplungen. Und ja, irgendwann gab es auch einen Wendepunkt. Aber vorher kam viel, das nachwirken musste.

Wurzeln in der Werkstatt

Die Werkstatt war mein zweites Zuhause. Überall standen Maschinen – keine sterile Fertigungsstraße, sondern ein Ort mit Charakter. Da war die hydraulische Blechschere mit ihrem schweren, ruhigen Takt. Die Abkantbank, die das Metall formte. Bohrmaschinen, Drehmaschinen, Sägen – jede hatte ihren eigenen Klang. Kein Lärm, sondern ein vielstimmiges Arbeiten. Ein Sound, der eher wie ein Herzschlag war als wie Krach.

Überall lag Werkzeug – gut sortiert, bereit. Stahlbleche, sauber aufgestapelt, warteten auf den nächsten Auftrag. Wir maßen aus, schnitten zu, verschweißten. Die Schweißgeräte brummten sonor, fast beruhigend, wenn der Lichtbogen zündete. Und dann waren da die Gerüche. Das fettige Blech – ein Geruch wie eingebrannte Technik. Der Rauch beim Schweißen – scharf, aber nicht fremd. Und wenn wir zu Kunden fuhren, in die Härtereien, dann war da dieser eine Geruch: Härtesalz. Leicht süßlich, fast wie Bittermandel. Wenn ich heute daran denke, meine ich, ich könnte es noch immer riechen.

Was ich in dieser Werkstatt lernte, war weit mehr als technisches Verständnis. Es war ein Gespür für Material, für Form, für Funktion – aber auch für Verantwortung. Wenn etwas nicht passte, hatte es Konsequenzen. Und so lernte ich zu sehen, zu hören, zu fühlen – lange bevor ich wusste, dass das später einmal Teil meiner therapeutischen Arbeit sein würde.

Sprache als Werkzeug – und als Grenze

In meiner Zeit als technischer Redakteur habe ich die Kraft der Sprache neu entdeckt. Nicht poetisch – sondern funktional. Was heißt eigentlich müssen – und was sollen? In der technischen Dokumentation kann ein einziges Wort über Sicherheit oder Missverständnis entscheiden. Denn müssen bedeutet: Es gibt keine Alternative. Sollen dagegen lässt Raum – es verweist auf eine Empfehlung, nicht auf eine Verpflichtung. Dieser Unterschied ist nicht nur sprachlich, sondern auch praktisch entscheidend.

Und ich habe gelernt: Sprache kann strukturieren. Aber auch einengen. Sie kann klären – aber auch verbergen. In der Psychotherapie begegnete mir dieselbe Erkenntnis: Ein Begriff ist nie neutral. Er trägt Bedeutung, Geschichte, Deutung – und prägt oft unser Verhalten, manchmal ohne dass wir es merken. Gerade in der Verhaltenstherapie zeigt sich, wie stark unsere Sprache unsere Gedanken formt – und wie daraus automatische Denkmuster entstehen können, die unser Erleben verzerren.

Sprache als Brücke

In meiner Arbeit erlebe ich immer wieder: Die Sprache des Klienten ist der Schlüssel. Nicht ich bringe die passende Metapher mit – sie entsteht oft im Gespräch. Manchmal sind es Begriffe wie „alte Programme“, „innere Antreiber“ oder „mentale Filter“, die Menschen intuitiv benutzen. Ich versuche, ihre Sprache zu sprechen – nicht um zu erklären, sondern um gemeinsam zu verstehen. Für mich ist das auch Psychoedukation: nicht als Vortrag, sondern als Dialog. Und manchmal gehört dazu auch, gezielt Informationen zu geben – zur Orientierung, zur Entlastung oder einfach, um etwas Verwirrendes verständlich zu machen.

Modelle und Menschen – ein fragiles Zusammenspiel

Als Ingenieur war ich es gewohnt, mit Modellen zu arbeiten. Sie abstrahieren, vereinfachen, machen komplexe Vorgänge greifbar. Doch sie lassen immer etwas weg – das Eigentliche oft. In der Verfahrenstechnik wusste ich: Ein Modell ist dann hilfreich, wenn es etwas erklärt. Aber es bleibt ein Werkzeug. Und nie die Wirklichkeit.

In der Psychotherapie spüre ich das noch deutlicher. Denn hier geht es nicht nur um Prozesse – sondern um Menschen. Um ihre Geschichten, Widersprüche, Gefühle. Wir arbeiten auch hier mit Modellen – systemisch, kognitiv, lerntheoretisch. Doch jedes Erklärungsmodell ist nur ein Rahmen. Es kann Halt geben – aber auch begrenzen. Und genau deshalb beginnt Therapie für mich nicht mit einer Theorie. Sondern mit einer Beziehung. Mit einem Raum, in dem es erlaubt ist, sich nicht in Schubladen einzuordnen.

Manchmal zeigt sich etwas nicht durch Analyse, sondern durch Resonanz. Wenn ein Satz stockt. Ein Blick ausweicht. Ein Lächeln zu spät kommt. Dann geschieht mehr, als Worte greifen können – und genau dort beginnt der eigentliche Kontakt. Der Punkt, an dem ein Modell endet – und das Menschliche beginnt.

Systemisches Denken: Technik trifft Therapie

In meiner Zeit in der Systemtechnik habe ich gelernt, in Netzwerken zu denken. Systeme sind keine geradlinigen Abfolgen – sie sind Rückkopplungsschleifen, dynamische Gleichgewichte. Ein einfaches Beispiel: Ein Thermostat misst die Temperatur, vergleicht sie mit dem Zielwert und regelt die Heizung entsprechend. Wird ein Fenster geöffnet, verändert sich das Gleichgewicht – und das System reagiert. In der Therapie ist es oft ähnlich: Kleine Impulse an der richtigen Stelle können größere Veränderungen im ganzen System auslösen.

Ein Mensch ist kein statisches Objekt. Er ist eingebettet – in Beziehungen, Muster, Erfahrungen, Kultur. Symptome sind oft nicht das Problem, sondern Teil der Lösung, die einst geholfen hat. Wenn wir verstehen, wie ein Verhalten funktioniert – wann es entstanden ist, was es aufrechterhält – dann können wir gemeinsam Wege finden, es zu verändern.

Ich sehe Therapie als Veränderungsprozess innerhalb eines Systems. Mein technischer Hintergrund hilft mir dabei, auch in scheinbar unklaren Situationen Ordnung zu sehen: Wo sind Stellschrauben? Wo stabilisiert sich etwas? Was könnte aus dem Gleichgewicht geraten, wenn wir an einer Stelle ansetzen? Dieses strukturierte Denken gibt Orientierung – auch, wenn es keine einfachen Antworten gibt.

Ein Moment im Therapieraum

Da sitzt mir jemand gegenüber – angespannt, skeptisch, vielleicht ängstlich. Aber auch mit Hoffnung. Es ist der erste Termin. Der Raum ist still. Ein Tisch, ein Glas Wasser, die obligatorischen Tücher. Draußen fährt ein Auto vorbei. In der Ferne ein Geräusch, das nicht zuzuordnen ist.

Ich sage nichts. Ich warte. Denn es braucht Zeit – um einen Gedanken zu denken, um einen Satz zu finden. Dann ein vorsichtiger Blick. Mein Gegenüber spricht. Der erste Satz – leise, tastend, fast entschuldigend. Und ich höre.

Wenn eine Diagnose hilfreich ist, um sich selbst besser zu verstehen, kann sie im Gespräch ihren Platz finden – aber sie steht nie am Anfang. Ich behandle Menschen, keine Diagnosen. Ich lasse Platz. Ich gebe Raum. Und manchmal ist es genau das, was jemand braucht.

Jemand sagt: „Das habe ich noch nie so ausgesprochen.“ Oder: „So hat das noch niemand verstanden.“ Und genau dann beginnt Therapie. Nicht als Methode, sondern als Begegnung.

Ein Beispiel aus der Praxis

Ich erinnere mich an einen Klienten, der immer wieder in sozialen Situationen mit starkem Rückzugsverhalten reagierte – beruflich wie privat. Gemeinsam analysierten wir die zugrunde liegenden Gedanken: „Ich darf mir keine Blöße geben.“ oder „Wenn ich mich zeige, werde ich bewertet.“ Solche Annahmen wirken wie innere Steuerprogramme – sie laufen automatisch ab, aber sie sind veränderbar.

Wir arbeiteten mit kognitiven Umstrukturierungen, entwickelten alternative Sichtweisen und setzten kleine Verhaltensexperimente um: ein kurzer Wortbeitrag im Meeting, ein bewusstes Aushalten von Stille. Keine großen Schritte – aber spürbare. Und genau das ist für mich das Faszinierende an der Verhaltenstherapie: Wie aus einem Gedanken ein anderer wird. Und aus einem anderen Verhalten ein neues Erleben.

Die stille Entscheidung – und der verhaltenstherapeutische Weg

Schon als Jugendlicher begleiteten mich Bücher von Alice Miller, Paul Watzlawick oder Hans Jürgen Eysenck. Sie sprachen etwas in mir an, das sich nicht in Formeln fassen ließ: die Suche nach innerer Freiheit, nach Sinn – und nach einer Sprache für das, was zwischen den Zeilen verborgen liegt.

Doch das Leben hatte seinen eigenen Takt. Familie, Beruf, Verantwortung – alles hatte seinen Platz. Und dennoch blieb eine Frage: Was würde ich bereuen, nicht versucht zu haben?

2020, mitten in der Pandemie, nahm ich den Faden wieder auf – und begann einfach. Ohne großen Plan, aber mit dem Gefühl, dass es jetzt an der Zeit war. Ich meldete mich zur Ausbildung zum Heilpraktiker für Psychotherapie an – Schritt für Schritt, tastend, aber mit wachsender Klarheit.

Abschlussgedanken

Ein Satz, den eine meiner Lehrerinnen oft sagte, begleitet mich noch heute:
„Umwege erhöhen die Ortskenntnis.“

Vielleicht ist das die wichtigste Erkenntnis auf meinem Weg:

  • Dass kaum ein Leben gerade verläuft – und dass das Wesentliche oft nicht auf, sondern neben dem Weg liegt.
  • Dass Technik und Menschlichkeit sich nicht ausschließen müssen, sondern sich gegenseitig ergänzen können.
  • Dass Sprache nicht nur Werkzeug ist, sondern auch Spiegel – unserer Gedanken, unserer Erfahrungen, unseres inneren Erlebens.
  • Dass Modelle helfen können, Ordnung zu finden – solange wir sie nicht mit der Wirklichkeit verwechseln.
  • Und dass Veränderung selten laut beginnt. Sondern leise – mit einem Gedanken, der sich erstmals zeigen darf.

Der Verfasser arbeitet als Heilpraktiker für Psychotherapie in eigener Praxis in Hamburg-Bergedorf.

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